Künstlerischer Reisebericht

Einmal in Paris in dem Café Tee trinken, in dem auch schon Matisse seinen Tee getrunken hat. 

Irgendwann mache ich das mal …

 

Im Mai 2014 habe ich das gemacht und bin in die klassische Moderne ins Paris um 1900 gereist. Auf dieser Zeitreise bin ich auf den Spuren meiner Malervorbilder gewandelt. Anschließend habe ich Anekdoten aus jener Zeit, meine Erlebnisse und Eindrücke von dieser Reise angefangen aufzuschreiben. Dazu gehören natürlich etwas Kunst und ein klein wenig Paris. Der folgende Text stellt Auszüge des dritten Tages aus dar.   


Tee mit Matisse

Auf den Spuren meiner Vorbilder - Reise in die klassische Moderne

Dritter Tag, Donnerstag, 15. Mai 2014
Montmatre

Heute ist der dritte Tag und es hat sich bereits eine Routine eingestellt: Morgens klopfe ich an die Tür zur Wohnung von Genevieve, sie bittet mich herein, begrüßt mich freundlich, wir wechseln ein paar Worte, sie deutet auf das fein angerichtete Frühstück auf dem kleinen Tisch und sagt, sie lasse mich jetzt in Ruhe. Anschließend geht sie in mein Zimmer, wird wieder das Bett machen und das Bad reinigen. Kurz bevor ich mit dem leckeren Frühstück fertig bin kommt sie zurück. Wie bereits am Vortag unterhalten wir uns. Ich erzähle Genevieve, dass ich heute hauptsächlich auf den Montmatre gehen wolle und den Abend an der Seine, am Square du Vert Galant dem kleinen Park an der Spitze der Ile de la Cité verbringen wolle, da es mir an den vorherigen Tagen dort so sehr gut gefallen hatte. Außerdem bedanke ich mich für das Frühstück, insbesondere für die Himbeeren, die es gab und erzähle ihr, dass diese das Lieblingsobst meiner Kindheit war.

Meine heutige Tour beginne ich von der Metrostation Blanche. Die Rue Lepic führt relativ steil bergan. Ich passiere das Café des Deux Moulins welches durch den Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“ bekannt wurde. Später wollte ich hier auf jeden Fall einen Kaffee trinken, jetzt aber erst einmal meine geplanten Ziele aufsuchen. Auf dem Weg, in der Rue Lepic, liegt das Haus mit der Nummer 54. In diesem Haus wohnte Theo van Gogh. Sein Bruder Vincent zog für zwei Jahre, die er in Paris lebte, bei ihm ein. Theo arbeitete in der Pariser Filiale des Kunsthandels Goupil & Cie bei dem einer der Onkel Teilhaber war. Durch Theo’s Verbindungen lernte Vincent viele andere Maler kennen und während dieser Zeit wurden seine Bilder heller. Als Vincent van Gogh im Februar 1888 nach zwei Jahren Paris verließ, hatte er mehr als 200 Bilder gemalt. Einen Monat später wurden drei seiner Bilder auf dem Salon des Artistes Independants ausgestellt. Ich lese die an dem Haus angebrachte Tafel, die besagt, dass Theo und Vincent van Gogh hier gelebt haben.

Dans cette maison
Vincent van Gogh
a vecu
chez son frere Theo
de 1886 a 1888

Vor dem Haus der van Gogh Brüder, Rue Lepic 54

Weiter geht es, vorbei an der Moulin de la Galette, die letzte Windmühle, welche an die ländliche Vergangenheit des Viertels erinnert.
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Nun wollte ich aber endlich zu einem der für mich wichtigsten Plätze meiner Reise in die Vergangenheit - zum Bateau Lavoir in der Rue Ravignon. Der Ort an dem Picasso, George Braque und andere Künstler gelebt und gearbeitet haben. Ich merkte, wie meine Aufregung größer wurde. So viel hatte ich über diesen Ort gelesen und gleich würde ich dort sein.

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Nach diesen ersten Eindrücken des Tages mache ich eine Pause mit Tee, Baguette und Eclair in einem der Cafés, bevor ich wieder in die Zeit vor über 100 Jahren zurückkehre. Dieses geschieht schlagartig, als ich in der Rue Ravignon 13, ankomme. Heute heißt dieser Ort Place Emile Godeau. Hier lag das Bateau Lavoir, ein heruntergekommenes Haus, in dem Maler und Schriftsteller es sich leisten konnten zu wohnen. Im Winter war es in dem Gebäude eiskalt und im Sommer ein Backofen. Anfang des 20. Jahrhunderts wohnten und verkehrten hier die Künstler der damaligen Avantgarde: Pablo Picasso, Georges Braque, Kees van Dongen, Guillaume Apollinaire, Henri Matisse, Gertrude Stein und Weitere. Der Kubismus, eine der Kunstrichtungen der klassischen Moderne, die mich mit am meisten fasziniert, wurde hier geboren. Ab ca. 1906 entstanden hier erste kubistische Gemälde von Braque und Picasso. Nachdem Picasso bereits einige Male in Paris war, siedelte er 1904 endgültig über und mietete im Bateau Lavoir ein Atelier. Hier lebte er bis 1909. Picasso schuf hier Gemälde wie das berühmte Bildnis Gertrude Stein für das sie ungefähr 80 Mal Model gesessen haben soll. Oder Les Demoiselles d’Avignon, 1907 fertiggestellt, welches als eines der Schlüsselwerke der neueren Kunstgeschichte gilt. Über ein dreiviertel Jahr erarbeitete sich Picasso dieses Bild intensiv. Belegt ist dieses durch über 800 Skizzen, darunter eigene Gemälde. Heute befindet sich das Bild in Museum of Modern Art in New York und ich möchte es gerne einmal sehen. Das Bateau Lavoir wurde übrigens 1970 durch einen Brand zerstört, 1978 rekonstruiert und gehört heute zu den Monuments Historique von Paris.

Bateau Lavoir

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Mit am meisten berührt über diesen Ort hatte mich eine Schilderung aus dem Buch „Leben mit Picasso“ von Françoise Gilot. Françoise war Picasso’s Lebensgefährtin von 1943 – 1953, gemeinsam hatten sie zwei Kinder und Françoise Gilot hat über ihr Leben mit Picasso Bücher geschrieben. Der Text beschreibt etwas, das erst ca 35 Jahre nachdem Picasso das Bateau Lavoir verlassen hatte, geschah. Das folgende ist ein Zitat aus dem Buch „Gilot, Françoise und Carlton Lake, Leben mit Picasso, Zürich, Diogenes Verlag AG, 1981“ (62 ff).

-Zitat Anfang-
Er erzählte mir oft von dieser Zeit und immer mit sehr viel sehnsüchtigem Heimweh. Eines Dienstags kam ich in die Rue des Grands-Augustins, um den Nachmittag dort zu verbringen, während Pablo malte. Da sah ich ihn auf der Schwelle vor dem Haus, angezogen zum Ausgehen in dem frischen Frühlingswetter. Er trug einen alten grauen Mantel, seine übliche zerknitterte graue Hose und einen zerbeulten Filzhut, dessen Rand er tief über die Augen gezogen hatte. Um den Hals hatte er einen langen, grünlich-blauen, gestrickten Wollschal geschlungen, den er über dem Mantel trug und dessen eine Ende er hinten über seine Schulter baumeln ließ nach der Art Aristide Bruants, des alten Chansonsängers vom Montmatre.
„Ich werde dir heute das Bateau Lavoir zeigen“, kündigte er mir an. [..] Die Häuser waren klein und sahen schäbig aus, doch ihr stilles, vernachlässigtes Aussehen war von eigenartigem Reiz. Das übrige Paris schien weit weg. Abgesehen von einzelnen modernen Appartementhäusern, kam es mir vor, als seien wir nach einer langen Reise durch Zeit und Raum in einem verblichenen Winkel der Vergangenheit gelandet. [..]. Wir gingen langsam bergab zu einem grauen Haus mit einem großen, nach Norden gelegenen Atelierfenster. „Das war mein erstes Atelier, hier, gerade vor uns“, sagte er. [..] Kurz darauf kamen wir zu einem abschüssigen, gepflasterten Platz, der recht hübsch und ein wenig melancholisch aussah. Vor uns lag das Hotel Paradies, daneben ein niedriges, flaches, einstöckiges Gebäude mit zwei Eingangstüren, das ich, ohne dass Pablo es mir gesagt hätte, als das Bateau Lavoir erkannte. Pablo wies mit dem Kinn in Richtung des Gebäudes. „Dort hat alles angefangen“, sagte er ruhig [..] „Wir brauchen nur diese Tür zu öffnen“, sagte er, „und wir sind in der blauen Periode.“ [..] Als ich hier wohnte, gab es ein kleines Mädchen, die Tochter des Concierge, die den ganzen Tag vor meinem Fenster Himmel und Hölle spielte und Seil sprang. Sie war so süß, dass ich wünschte, sie würde nie erwachsen werden. Nachdem ich weggezogen war und einmal wieder zu Besuch kam, hatte sie sich zu einer sehr ernsthaften jungen Frau entwickelt. Als ich sie das nächste Mal sah, war sie ziemlich dick geworden. Jahre später traf ich sie wieder, sie sah ganz alt aus, und das deprimierte mich schrecklich. Vor meinem geistigen Auge stand immer noch das kleine Mädchen mit seinem Springseil. Ich merkte, wie schnell die Zeit verflog und wie weit ich mich von der Rue Ravignon entfernt hatte.“ Wir gingen den Fahrweg hinunter; er konnte nur schwer seiner Bewegung Herr werden. Den ganzen Weg zurück zum Platz blieb er schweigsam.
-Zitat Ende-

Angetan war ich, durch die Schilderungen von Françoise irgendwie dabei gewesen zu sein, als Picasso ihr das Bateau Lavoir zeigte. Weitaus mehr berührt, dass Picasso, zu jenem Zeitpunkt über 60 Jahre alt, sehr erfolgreich und kerngesund, die eher traurige Lebensentwicklung eines anderen Menschen beobachtet und wahrnimmt. Das kleine, süße, wohl auch glückliche Mädchen und wie es über die Jahre sehr ernst wurde, alt aussah und dabei 20 Jahre jünger als der Beobachter war. Ich hatte diese Textpassage mitgenommen und vor Ort noch einmal gelesen.
Bevor ich in die Gegenwart zurückkehre, fertige ich eine Skizze des heutigen Platzes an. Auf dem Weg zum Café aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“ kaufte, ich in einem herrlichen Käsegeschäft, Brie und Camembert, direkt nebenan Baguette. Wahrscheinlich war das in der Rue des Abbesses, leider hatte ich darüber keine Ortsangabe notiert.
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Michael Wiegand, Aug/Sept 2017